Ein Hamburger macht mir als DDRler Vorwürfe
Die Grenzen zwischen der DDR und der BRD waren gerade offen. So fuhr ich Anfang Dezember 1989 nach Hamburg zum Unternehmen „HansaTourist“.
Aufgrund eines Verhandlungstrainings, das ich für Mitarbeiter des „Deutschen Reisebüros der DDR“ 1989 in Berlin durchführte, wurde mir ein Gespräch mit dem Geschäftsführer von „hansa tourist“ vermittelt. Wir trafen uns in einem Berliner Hotel und kamen überein, daß er mich nach Hamburg zu einem Besuch seines Unternehmens einlud, um Vor Ort über eine mögliche Zusammenarbeit beim Personaltraining und ggf. zur Existenzsicherung des Unternehmens während des Zusammenbrechens der DDR zu sprechen.
- „HansaTourist“ war eine „Gemischte Gesellschaft“ (GG). Mit Hauptsitz in Hamburg gehörte dieses Unternehmen also (auch) der DDR. Hansa Tourist war „das linke Reisebüro“, das vor allem Reisen in die sozialistischen Länder anbot, so u.a. auch Reisen in 16 DDR-Campingplätze.
- Das „Deutsche Reisebüro der DDR“ war das einzige landesweite Reiseunternehmen. Es hatte ein Netz von 131 Filialen über die DDR verteilt. Das DDR-Reisebüro arbeitete natürlich eng mit „Hansa-Tourist“ zusammen.
In einer Pause unseres Geschäftskontaktes ging ich in Hamburg etwas spazieren und geriet neugierig in einen großen Zeitungsladen, der für mich völlig überladen mit bunten Klatsch-Zeitungen und den verschiedensten Zeitschriften war. Ich war erschlagen von der Fülle der auf Papier gedruckten Informationen und konnte mir nicht vorstellen, daß die alle verkauft und gelesen werden können. Der schon etwas ältere Inhaber des Ladens sprach mich direkt an. Er hatte (vielleicht an meiner anderen Kleidung?) erkannt, daß ich aus der DDR komme. Er war sehr aufgewühlt und drängte mir unbedingt sein Gespräch mit seinen Vorwürfen auf (natürlich nahm er mich stellvertretend für die DDR-Bürger und meinte mich nicht persönlich). Er sagte, daß er ein alter Sozialdemokrat sei und fragte mich, ob wir Menschen in der DDR denn lebensmüde seien, so ein Land mit diesen schon erreichten sozialen Errungenschaften und der guten Gesellschafts-Vision aufzugeben und zum Klassen-Feind in den Westen überzulaufen.
Und er fragte mich weiter, ob wir denn nicht über die Jahre der DDR-Existenz begriffen hätten,
- daß die Ausbeutung des Volkes und jedes Einzelnen im Kapitalismus wirklich stattfindet,
- daß die Inhalte der TV-Sendungen von Carl Eduard von Schnitzler (Schwarzer Kanal) über die Bundesrepublik im Kern der Ernst der Lage seien,
- daß es hier in Westdeutschland wirklich viele Arbeitslose gäbe und bald auch bei uns im Osten,
- daß jetzt die westdeutschen Konzerne ihre Konkurrenz in der DDR völlig vernichten werden,
- daß sich jetzt die Geldbesitzer aus dem Westen bald die gesamte Wirtschaft der DDR (unser Volksvermögen) einverleiben werden,
- daß auch in West-Deutschland nicht jeder dahin reisen könne, wohin er will, denn nicht alle Lohn-Arbeitenden in der BRD könnten sich einen Urlaub leisten.
usw. usf.
Die „Frankfurter Rundschau“ beschrieb später am 21. August 1990 so treffend, was dieser Mann in Hamburg voraussah:
,,Der Tag der Vereinigung, heißt es, wird auch der Tag der Wahrheit sein. Dann schließen sich zwei noch für lange Zeit extrem unterschiedliche Gemeinwesen zusammen. Während die heutige Bundesrepublik von Tag zu Tag reicher wird, steht der Noch-DDR ein Winter bevor, der den Menschen dort den Unterschied erst richtig klarmachen wird … Für einige Zeit werden wir ,Norditaliener‘ Europas unseren Süden, unser Sizilien bekommen . . . Die Frage ist nur, wie lange dieser Übergang dauern wird … Ein vereinigtes Deutschland, in dem mehr als zwei Drittel im Wohlstand, die anderen aber für längere Zeit in einem Armenhaus leben, kann nicht gedeihen. Die Mauer ist weg. Wie lange bleibt die andere Mauer?“
Günter Wallraf beschreibt in seinen Bücher sehr anschaulich die menschlichen Verwerfungen und katastrophalen Existenzbedingungen im Kapitalismus der BRD:
- Günter Wallraff – Ganz Unten
- Günter Wallraff Undercover: Unter Null – Obdachlos durch den Winter
- Günter Wallraff Undercover: Bei Anruf Abzocke
- Günter Wallraff Undercover: Wo Arbeit wehtut
„Visafrei bis nach Hawaii“ – Urlaubsträume, Trends und Reiseziele in der DDR