Der Hermann oder „Männe“ war einer von uns.
Mein strenger und zugleich geliebter Vater, Hermann Barth (unter guten Freunden „Männe“ genannt), starb nach 60 Lebensjahren 1985 – fünf Jahre vor dem Ende der DDR. Sein Tod kam mit dem mehrfachen Versagen (Zusammenbruch) seines physischen Organismus. Er erkrankte Mitte 1984 an Lungenkrebs und wurde daraufhin in einem Cottbuser Krankenhaus mit Chemotherapie behandelt. Damals mußte ich noch im Dezember 1984 massiv auftreten, um vom behandelnden Arzt meines Vaters zu erfahren, welche Krankheit mit welcher Genesungs-Aussicht mein Vater hatte. Mein Vater selbst machte diese schwierige Situation mit sich selbst aus. Er sprach nicht über den Ernst seiner Lage, ordnete noch seine persönlichen Unterlagen für den Nachlaß, wollte aber keinen seiner Nächsten mit seiner Situation belasten. Als es ihm Anfang Februar sehr schlecht ging und er schon mit dem Tode rang, verlange er nach mir, seinem Sohn. Damals lebte ich mit meiner Familie in Jena, fuhr sofort nach Senftenberg zu ihm, fand ihn zu Hause in seinem Bett in wirklich desolatem Zustand, aber er erkannte mich noch einmal, als ich seine Hand nahm und ihm sagte, das ich es bin. Er lächelte beruhigt, konnte sich aber nicht mehr verständlich artikulieren, drückte leicht meine Hand, bevor sein Bewußtsein wieder entschwand. Nur wenige Stunden später schlug sein Herz den letzten Schlag. Er hatte sich von mir verabschiedet.
Die Ärzte behaupteten als Ursache seiner Erkrankung und seines Todes das jahrelange starke Rauchen meines Vaters. Auch sein bester Freund, ein Funktionär bei der SED-Kreisleitung Senftenberg und ebenfalls starker Raucher, starb ein Jahr zuvor – ebenfalls an Lungenkrebs.
Ich behaupte, mein Vater starb deshalb viel zu früh, weil er nach seinem sehr aufopferndem und engagierten Lebenskampf für die Idee der sozialistischen Gesellschaft in der DDR tief im Inneren und für sich bitter erkannte,
- daß zu viel dabei von Besserwissern und Revisionisten in Machtpositionen falsch gemacht wurde,
- daß seit 1945 zuviel Verrat von Verrätern in den eigenen Reihen war,
- daß so viele gute Kämpfer für die neue Gesellschaft von den „eigenen Leuten“ vernichtet, „in die Produktion“ geschickt, gedemütigt, gebrochen und zum Schweigen gebracht wurden,
- daß auch seine Qualitäten des kreativen Umgangs mit dem Wort in Schrift und Rede (und sogar mit dem Bild) nicht geschätzt und genutzt wurden,
- daß er persönlich so viel Energie, Lebenszeit und Fähigkeiten „für den Sozialismus“ erfolglos gegeben hatte, und
- daß schließlich dieses (auch sein) gesellschaftliches Werk nicht gelingen würde – was sich fünf Jahre später bewahrheitete.
Er hatte zu viele frustrierende und traumatische Erlebnisse in diesem System hinter sich (machtgierige und machtausübende Egomanen, Lügner und Betrüger, Dumme und Dreiste). Der Verlust seines besten Freundes und Gleichgesinnten erteilte ihm schließlich das entscheidende Trauma. Jetzt erlebte er sich verlassen und allein, verloren ohne weiteren Sinn. Diese psychischen Ursachen manifestierten seine physische Erkrankung (Krebs in den Lungen). Später studierte und erforschte ich dieses Thema Rauchen detailliert, machte Veröffentlichungen dazu, half einigen Menschen zum Rauchstopp und wurde damit sogar zum „Nichtraucher-Papst“ (Antennen Brandenburg).
Mein Vater konnte in seinen letzten Lebensjahren noch Abstand vom SED-Parteiapparat bekommen, sich um sein Hobby in seinem kleinen Garten kümmern und sich der Arbeit im Gartenverband zum Wohle der Mitglieder widmen. Und so spürte und erlebte ich in den ehrenden Stunden nach seinem Begräbnis, versammelt in dem von ihm mit aufgebauten Gartenlokal seiner Kleingartensparte „Glück auf!“, als ich im Namen unserer Familie vor den Trauergästen wertschätzende Worte über ihn sprach, daß einige Menschen ihn sehr wohl erkannten und ihn deshalb aus tiefem Herzen würdigten und ehrten. Denn seine Bergleute (wozu auch die Braunkohlen-Kumpel zählten) sagten: Der Hermann oder „Männe“ war einer von uns.
In einem hinterlassenen Brief-Entwurf an einen seiner beiden Brüder in der BRD schrieb mein Vater Anfang 1984: „Wir können von uns hier sagen, unser Leben war schön, und ist schön. Gewiß, wir haben im Gegensatz zur BRD viele schwere Jahre gehabt, aber wir schaffen es, wir sind über den Berg gekommen. Das zu wissen, ist wohltuend, macht stolz, zumal dann, wenn man zurückblickend auf seinen eigenen Anteil daran verweisen kann.“
Ja, mein Vater wollte so gern in einer besseren deutschen Republik leben und leistete dafür seinen Anteil.