BRD vs. Deutschland. Die Annexion der DDR durch Westdeutschland
Amn. d. Red.: Wir präsentieren Ihnen einen Ausschnitt aus einer Sendung des russischen Historikers und Sozialphilosophen, Andrej Iljitsch Fursow. Er ist seit 1986 Kandidat der Geschichtswissenschaften. Direktor am Institut für Grundlagen- und Angewandte Forschung der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften
Andrej Fursow: Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich wurde eine Reihe von Werken veröffentlicht.
Dabei handelt es sich sowohl um Bücher als auch um Artikel. Unter Anderem geht es um einen großen Artikel in der Zeitschrift «Le Monde diplomatique», der den Titel «Die Annexion der DDR durch Westdeutschland»
trägt. Und aus den Materialien, die veröffentlicht wurden, wird ganz klar, dass einer der Mythen, die der heutigen Europäischen Union zugrunde liegen – die so genannte Wiedervereinigung Deutschlands oder die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten – eine sehr wackelige Grundlage für diesen Mythos ist, denn wenn es sich nicht um eine Wiedervereinigung, sondern um einen Anschluss handelt, dann sieht das
Bild ganz anders aus. Und außerdem: Statt des wirtschaftlichen und sozialen Wohlstands, der dem Osten Deutschlands versprochen wurde, gab es in Wirklichkeit einen wirtschaftlichen Zusammenbruch, einen ganz bewussten wirtschaftlichen Zusammenbruch. Und es ist kein Zufall, dass 2019 die «Alternative für Deutschland» in mehreren Bundesländern der ehemaligen DDR 20% der Stimmen erhalten hat.
Laut einer Umfrage der «Zeit» vom Oktober 2019 fühlen sich 58% der Ostdeutschen… Ostdeutsche heißen in Deutschland “Ossi” (aus dem Osten), Westdeutsche “Wessi” (aus dem Westen). 58% der “Ossis” fühlen sich
nicht mehr so vor staatlicher Willkür geschützt wie zu DDR-Zeiten. Und immer mehr Analytiker in Deutschland selbst und in Frankreich sprechen vom Anschluss.
Werfen wir einen Blick auf den Verlauf der Ereignisse im Jahr 1989, um sie unseren Zuschauern und Lesern in
Erinnerung zu rufen. Am 2. Mai öffnete Ungarn die Grenze zu Österreich, und bereits im September (sogar
schon früher – im August, aber die wichtigsten Ereignisse begannen im September) strömten Massen von
Ostdeutschen durch Ungarn und Österreich in die BRD. Am vierten September organisierten Studenten in
Leipzig eine Demonstration für politische Freiheiten und begannen dann, sie jeden Montag zu wiederholen (so
wie die “Gelbwesten” in Frankreich jetzt jeden Freitag zu ihren Demonstrationen gehen, als ob sie arbeiten
würden). Am 7. Oktober wurde der 40. Jahrestag der Gründung der DDR gefeiert. Und am 18. Oktober folgte
der Rücktritt des Generalsekretärs der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Honecker.
Tatsache ist, dass es drei osteuropäische Führer gab, die sehr gespannte Beziehungen zu Gorbatschow
hatten: Honecker, Ceausescu und Schiwkow. Übrigens, als Schiwkow 1987 zum ersten Mal mit Gorbatschow
zusammentraf, sagte er zu seinem Gefolge: «Dieser Narr wird uns alle ins Verderben reißen». Diese drei
Personen hatten ein sehr angespanntes Verhältnis zu Gorbatschow. Und Gorbatschow hatte auch eine
negative Einstellung zu Honecker.
Andrej Fefelow: Das heißt, Schiwkow hielt Gorbatschow für einen Dummkopf, nicht für einen Verräter.
Fursow: Ja, ein Narr, kein Verräter. Aber die Sache ist die, dass es 1987 so aussah, als ob er ein Narr wäre.
Verstehen Sie das? Ein Narr ist eine Person, die einen Schritt nach links macht, dann nach rechts, dann nach
links, dann nach rechts. Wenn eine Person aber alle Schritte in dieselbe Richtung macht, ist sie entweder ein
Verräter oder wird von einem anderen bösen Willen angetrieben. Aber auf der ersten Blick erwies sich
Schiwkows Standpunkt als absolut richtig.
So folgte am 8. November die Auflösung des Politbüros der Partei. Am 9. November wurde die innerdeutsche
Grenze geöffnet – die Berliner Mauer wurde niedergerissen. Nun, und am 28. November schlug
Bundeskanzler Helmut Kohl ein Zehn-Punkte-Programm für einen künftigen Einheitsstaat vor.
Es muss gesagt werden, dass 1988 und 1989 die Briten und Amerikaner – Thatcher und Reagan, dann Bush
Senior – Gorbatschow fast ultimativ überredet haben, Deutschland nicht zu vereinigen. Das Erstaunliche ist
jedoch, dass dieser feige Mann, der den Angelsachsen nach dem Mund redete, ihnen nicht gehorchte. Und
durch seine Schritte zur Vereinigung Deutschlands änderte Gorbatschow schließlich nicht nur die Haltung der
herrschenden Kreise der angelsächsischen Welt gegenüber sich selbst, sondern auch die Haltung der
Deutschen gegenüber der Existenz der Sowjetunion.
Solange die Westdeutschen nicht die Möglichkeit hatten, die DDR zu übernehmen, musste die Sowjetunion
existieren, weil man mit ihr verhandeln konnte. Aber sobald sie das Gefühl hatten, sie könnten Gorbatschow
bekommen und die DDR übernehmen, wurde die Sowjetunion nicht mehr gebraucht. Und da hat sich ihre
Position geändert. Das heißt, mit diesem verräterischen Schritt hat Gorbatschow sowohl sein endgültiges
Urteil in den Augen der Briten und Amerikaner unterschrieben, als auch eine Änderung der Haltung der
Deutschen gegenüber der Existenz der UdSSR bewirkt.
Doch zurück zur DDR. Im Herbst 1989…. Dies ist das Wichtigste, was sowohl französische als auch deutsche
Analytiker jetzt festhalten, was für viele Europäer sehr unangenehm ist. Im Herbst 1989 wollte also die
überwältigende Mehrheit der DDR-Bewohner, die gegen das DDR-Regime waren, die Vereinigung mit
der BRD überhaupt nicht. Nach einer Umfrage des westdeutschen Magazins «Der Spiegel» vom 17.
Dezember 1989 wollten 71% der DDR-Bürger keine Vereinigung mit der BRD. Die Ostdeutschen, so sagen
viele derjenigen, die sich am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz versammelt haben, wollen einen
echten Sozialismus in der DDR, keinen Kapitalismus. Am 26. November 1989 sprach die regimekritische
Schriftstellerin Christa Wolf im DDR-Fernsehen über die Möglichkeit, in der DDR eine sozialistische
Gesellschaft als Alternative zu dem in der BRD bestehenden System, also zum Kapitalismus, aufzubauen. Am
7. Dezember 1989 wurde in Berlin ein Runder Tisch nach polnischem und ungarischem Vorbild einberufen, um
zum einen über die Erhaltung der obligatorischen staatlichen Souveränität (d.h. eine Vereinigung mit der BRD
kam nicht in Frage) und zum anderen über den Aufbau eines demokratischen und ökologischen Sozialismus
zu diskutieren, wie es hieß.
Und erst das rigide Eingreifen der westdeutschen politisch-wirtschaftlichen Kräfte (und zwar nicht nur mit
Wissen und Zustimmung Gorbatschows, sondern mit dessen Unterstützung) neutralisierte diese sozialistische
Mobilisierung und neutralisierte die Möglichkeit, einen wirklich demokratischen Sozialismus in der DDR
aufzubauen.
Fefelow: Natürlich war unsere militärische Gruppierung vor Ort, und ohne unsere Erlaubnis wäre so etwas
nicht passiert.
Fursow: Natürlich.
Und allmählich beginnt die Bonner Führung, die sich von ihrem Erstaunen erholt hat, mit der Wahleroberung
der DDR. Ihre Einmischung in die Wahlen vom 18. März 1990 war so stark, dass der westdeutsche Politiker
Egon Bahr, einer der Architekten der Annäherung zwischen der BRD und der DDR in den 1970er Jahren, sie
als die schmutzigste Wahlkampagne bezeichnete, die er je in seinem Leben gesehen hatte. Und nach der
Wahl annektierte Westdeutschland unter Helmut Kohl den souveränen Staat im Wesentlichen gewaltsam,
demontierte seine Institutionen und ersetzte sie durch kapitalistische.
Wie aktuelle Forscher in Frankreich und Deutschland betonen, hat die Bevölkerung der DDR in den
vier Jahrzehnten ihres Bestehens eine spezifische Form der deutschen nationalen Identität entwickelt,
die sich deutlich von der westdeutschen unterscheidet. Sie war geprägt von den Errungenschaften
des Sozialismus in den Bereichen Arbeit, soziale Solidarität, Gesundheitswesen, Bildung und Kultur.
Fefelow: Nun, die Ostdeutschen waren ursprünglich ein wenig anders.
Fursow: Sie waren anders. Und der Sozialismus war sehr gut für sie. Die preußische Mentalität war sehr, sehr
gut für den Sozialismus geeignet.
Fefelow: Dennoch sollten wir sagen, dass die Basis dieser Länder Preußen ist, richtig?
Fursow: Natürlich. Und 40 Jahre lang wurde der staatssozialistische deutsche Mensch auf der preußischen
Basis geformt. Natürlich mochte er die Lebensweise der Westdeutschen, aber er mochte das Alltagsleben.
Der Sozialismus war gut, aber er musste durch etwas ergänzt werden. Und die westdeutschen Architekten der
Wiedervereinigung erkannten, etwas verspätet, dass dieses Problem irgendwie gelöst werden musste.
Jetzt sagen immer mehr Forscher… Die Autoren eines großen Artikels in der «Le Monde diplomatique», der
diesem Ereignis gewidmet ist, sagen: «Wir müssen das Wort “Vereinigung” vergessen. Wir sollten von
Anschluss (der zweite) oder von Absorption, von Annexion sprechen». Übrigens hat Wolfgang Schäuble, der
damalige Innenminister der Bundesrepublik Deutschland, dies im Frühjahr 1990 gegenüber den Ostdeutschen
deutlich gemacht. Er verhandelte mit den DDR-lern, und er sagte ihnen Folgendes: «Liebe Freunde, es geht
um den Beitritt der DDR zur BRD, nicht umgekehrt. Es geht hier nicht um die Vereinigung zweier
gleichberechtigter Staaten».
Und anstatt die beiden deutschen Nationen über eine neue Verfassung gemäß dem Grundgesetz der
BRD (Artikel 146) abstimmen zu lassen, wie es sich gehört, wenn es sich wirklich um eine Vereinigung
handelt, hat Bonn seinem Nachbarn eine Annexion auferlegt, wie sie 1957 bei der Angliederung des
Saargebiets an Westdeutschland praktiziert wurde. Und das Ergebnis am 3. Oktober 1990 war eine
einfache Ausdehnung des Grundgesetzes der BRD auf die fünf neuen Bundesländer, die offiziell als eine
ehemalige Zone der rigiden Polizeidiktatur, des Kitsches in der Kleidung (man könnte meinen, es gäbe keinen
Kitsch in der Kleidung in der BRD) und des Trabants (nicht das schlimmste Auto) wahrgenommen wurden.
Fefelow: Was übrigens, trotz aller [anekdotischen?] Eigenschaften, ein Beispiel für genau den ökologischen
Transport war, den die heutigen Unternehmen anstreben.
Fursow: Vollkommen richtig.
Aber die Westdeutschen waren sich sehr wohl bewusst, dass die Ostdeutschen sich dieser Vereinigung,
dieser Annexion widersetzen könnten. Also begannen sie, nach Möglichkeiten zu suchen. Und Helmut Kohl
fand sie, er verkaufte seinen Schachzug, er unterdrückte sogar den Widerstand in Westdeutschland dagegen.
So schlug Kohl am 6. Februar 1990 vor, die D-Mark auf den Osten auszudehnen. Er verfolgte damit mehrere
Ziele, vor allem sollte die Position der BRD gegenüber der DDR so gestärkt werden, dass auch ein plötzlicher
Sinneswandel Gorbatschows nichts ändern würde. Gorbatschow hat seine Meinung natürlich nicht geändert,
aber Kohl hat sich abgesichert.
Und der zweite Punkt ist, dass Kohl beschlossen hat, den Ostdeutschen einfach den Käse zu schenken, ohne
natürlich die Mausefalle zu zeigen. Übrigens hatte Gorbatschow überhaupt nicht die Absicht, etwas zu ändern.
Es ist bezeichnend, dass Gorbatschow am 9. Februar – am dritten Tag nach Kohls Erklärung –
verkündete er, dass das Bündnis akzeptiere, wie es sei, und bei dieser Gelegenheit den
US-Außenminister empfing, der ihm versicherte, die NATO werde sich keinen Zentimeter nach Osten
bewegen.
Fefelow: Oh ja, aber wir müssen noch einmal betonen, dass der Sturz Honeckers auch das Werk von Bürgern
war.
Fursow: Natürlich. Wir werden etwas später darüber sprechen. Natürlich war die Absetzung Honeckers und
die Annexion, der Anschluss (nicht die Wiedervereinigung) das Werk Gorbatschows. Das erinnert mich sehr
an die Position von Jelzin. Als Akajew ihn fragte: «Was soll ich mit den Russen machen?», sagte er: «Was
immer Sie tun wollen, tun Sie es.» Hier war Gorbatschows Position die gleiche. «Und was soll ich mit
Honecker machen…?» Honecker wurde auf verabscheuungswürdigste Weise verraten, er durfte nicht in
der Sowjetunion, in Russland leben. Ja, Gorbatschow mochte Honecker nicht besonders, weil Honecker ihn
seinerzeit durchschaut hatte.
Das ist der zweite Punkt. Kohl beschloss am Vorabend der Wahlen, die Ostdeutschen (kurzfristig) zu kaufen.
Am 18. März sollten also Wahlen stattfinden, und den Umfragen zufolge schlug die neu gegründete Partei des
Demokratischen Sozialismus die Christlich-Demokratische Union. Die Sache ist die, dass es in der DDR ein
Mehrparteiensystem gab, und die CDU war da, aber sie war immer im Schatten. Und die neue PDS hat laut
Umfragen gewonnen. Es wurde beschlossen, eine sofortige finanzielle Integration durchzuführen. 1994 sagte
Thilo Sarrazin (später berühmt für sein Buch «Deutschland schafft sich ab», und damals, Anfang der 1990er
Jahre, war er Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland) schon damals, dass diese finanzielle
Integration den möglichen Sieg der PDS neutralisieren sollte. Was wurde also vorgeschlagen? Es wurde
vorgeschlagen, eine einheitliche Währung einzuführen, bei der die D-Mark im Verhältnis 4,4:1 gegen die
Ost-Mark getauscht werden sollte. Das ist ein hervorragender Kurs. Und kurzfristig war das nicht gut für die
westdeutschen Finanzen, die Bundesbank war dagegen. Kohl spuckte darauf und drückte diese Entscheidung
mit seinem physischen und politischen Gewicht durch.
Fefelow: Er hat es sozusagen versüßt.
Fursow: Ja, absolut richtig. Und das hat die Menschen im Osten Deutschlands begeistert. Der Finanzverband
wurde zum Zentrum des Wahlkampfes der CDU. Im Ergebnis erhielt diese Partei 48% der Stimmen, die
Sozialdemokraten 21%, die Partei des Demokratischen Sozialismus (so hieß die ehemalige Regierungspartei
in der DDR) nur 16%.
Hinter dieser politischen Großzügigkeit verbarg sich jedoch eine politische Lösung, und bereits 1991 beschrieb
Christa Luft, Wirtschaftsministerin der DDR (sie war vom 18. Oktober bis zum 18. März 1990
Wirtschaftsministerin der DDR), in ihrem Buch «Zwischen WEnde und Ende» die Situation folgendermaßen:
«Mit Hilfe der D-Mark die rasche Annexion der DDR durch Westdeutschland zu sichern». «Die D-Mark konnte
der DDR nur im Gegenzug für eine völlige Umgestaltung des Wirtschaftssystems gegeben werden», schreibt
Thilo Sarrazin freimütig.
Und schon nach dieser finanziellen Integration wurde am 18. Mai 1990 ein Vertrag unterzeichnet, der eine
völlige Veränderung der sozioökonomischen Ordnung bedeutete und keinen demokratischen Sozialismus, den
70% der DDR-Bevölkerung anstrebten. In Artikel 1 des Vertrages hieß es: «Die Wirtschaftsunion der beiden
Staaten beruht auf der sozialen Marktwirtschaft als Wirtschaftsordnung beider Vertragsparteien. Diese wird
durch Privateigentum, Wettbewerb, freie Preisbildung, Freizügigkeit der Arbeitskräfte, des Kapitals, der Waren
und Dienstleistungen bestimmt.» In Artikel 2 heißt es aber weiter: «Soweit die Bestimmungen der
sozialistischen Verfassung der DDR dem politischen Liberalismus und dem freien Tausch sowie dem
Eigentum privater Investoren an Grund und Boden und Produktionsmitteln widersprechen, sind sie nichtig und
können nicht angewendet werden.» Das war’s, die Beweisführung ist abgeschlossen, vergessen Sie es.
Am 1. Juli 1990 begann die Westoffensive gegen die Ostbanken. Und hier wurde den Bürgern der ehemaligen
DDR klar, dass die Stunde der Abrechnung mit der billigen D-Mark gekommen war. Sobald die Menschen in
den Westen strömten, schnellten die Preise für Waren und Dienstleistungen um 300% bis 400% in die Höhe
und die ostdeutschen Unternehmen verloren mit einem Schlag ihre Wettbewerbsfähigkeit. Sie verloren nicht
nur den Inlandsmarkt (den hatte die Bundesrepublik Deutschland bereits erobert), sondern auch den
Außenmarkt, vor allem die UdSSR, wohin 60-80% der DDR-Exporte gingen.
Selbst der frühere Bundesbankpräsident Otto Pöhl stellte fest, dass die DDR eine so große Dosis westlicher
Medizin geschluckt hatte, dass ihre Wirtschaft sie nicht vertragen konnte. «Und überzeugt», schreibt er, «wie
Molieres Ärzte von den Vorzügen des Aderlasses, dachten die Westdeutschen nicht einmal daran,
Gegenmaßnahmen zu ergreifen, um den Übergang abzumildern». In der Tat dachten sie nicht nur nicht daran,
sie hatten auch nicht vor, daran zu denken.
Fefelow: Es war also ursprünglich die Aufgabe?
Fursow: Die Aufgabe war, die DDR als sozialistisches Land zu zerstören. «Und buchstäblich über Nacht», so
schreibt Pöhl, «vollzog die DDR eine wirtschaftliche Liberalisierung, für die die BRD einst zehn Jahre, von
1945 bis 1955, gebraucht hatte». Kein Wunder, dass bereits im Juli 1990 die Industrieproduktion in der DDR
(im östlichen Teil des bereits vereinigten Deutschlands) um 43,7% gegenüber dem Vorjahr sank, im August
sogar um 51,9%. Die Zahl der Arbeitslosen stieg von 7,5 Tausend im Januar 1990 auf 1,5 Millionen im
Januar 1992 (zwei Jahre später). Von 7,5 Tausend auf 1,5 Millionen.
Fefelow: Das ist ein sozialer Zusammenbruch.
Fursow: Ein totaler Zusammenbruch. Zählt man die Personen hinzu, die sich in einer Umschulung befinden
(was als Umschulung bezeichnet wurde) und die Personen im Vorruhestandsalter, die nicht eingestellt wurden,
dürfte sich diese Zahl verdoppeln.
Keines der ost- und mitteleuropäischen Länder, die den Sowjetblock verließen, hatte solch
katastrophale Indikatoren. In den frühen 1980er Jahren gehörte die DDR zu den zehn führenden
Industrieländern der Welt. Sie war das am weitesten entwickelte Land Osteuropas.
«Die Entscheidung Westdeutschlands und das soziale Pogrom der DDR, war bewusst», schreiben die Berliner
Journalistin Rachel Knebel und der französische Forscher Pierre Rimbert im (gerade erschienenen) «Le
Monde diplomatique» vom November 2019. Wie der Theologe, der Sozialdemokrat Richard Schröder (er
kritisierte in der DDR aktiv die Behörden) feststellte, «ging die BRD bewusst nicht mit einer gesunden, sondern
mit einer in Trümmern liegenden, bis dahin erfolgreich zentralisierten Wirtschaft auf Einigungskurs.»
Das Gleiche wurde mit der sowjetischen Wirtschaft gemacht – sie wurde in die kapitalistische Wirtschaft
integriert, aber nicht in einer gesunden Form, sondern in einer maximal zerstörten Form durch die
Bemühungen von Gaidar, Tschubais und dem Jelzin-Klan.
Fefelow: Das hat eine gewisse Logik. Eine koloniale, aber eine Logik.
Fursow: Natürlich.
In den Augen der “Ossis” hat der Terminator ihrer Gesellschaft einen Namen – Treuhand (abgekürzt von der
Treuhandanstalt). Es handelt sich um eine sogenannte Treuhandgesellschaft. (Sie wurde am 1. März 1990 als
Mittel zur Überführung der DDR in den Kapitalismus gegründet. Ihre Hauptaufgabe war es, die Wirtschaft zu
privatisieren und darüber hinaus (sehr interessante Formulierung!) die Quasi-Totalität des Volkseigentums zu
beseitigen. «Liquidierung der Quasi-Totalisierung des Volkseigentums». Im Grunde genommen ist es
Plünderung, aber so schön benannt – «Quasi-Totalisierung». So bezeichneten sie listig die Unternehmen und
das Eigentum, die bis zum 1. Juli 1990 in Staatsbesitz blieben.
Die Treuhand übernahm die Kontrolle (d.h. das, was ihr anvertraut wurde) über 8.000 Fabriken und
Unternehmen mit ihren 32.000 Betrieben – darunter Sachwerte, Gebäude, Grundstücke. Das reichte von
kleinen Lebensmittelläden und kleinen Kinos in Kleinstädten bis zu großen Geschäften und Kinos in
Großstädten. Dazu gehörten 57% aller DDR-Immobilien. Über Nacht wurde die Treuhand zum größten
Konglomerat der Welt, verwaltete 4 Millionen Angestellte und 45% aller Vermögenswerte. Das heißt,
zum Zeitpunkt ihrer Auflösung (sie wurde am 31. Dezember 1994 aufgelöst) hatte die Treuhand den größten
Teil ihres Portfolios privatisiert oder liquidiert (weil sie etwas liquidierte und etwas privatisierte) und konnte sich
einer in der modernen Wirtschaftsgeschichte beispiellosen Leistung rühmen – der Deindustrialisierung der
ehemaligen DDR und der Vernichtung von 2,5 Millionen Arbeitsplätzen.
Und dieses “Wunder” des Liberalismus, so der ehemalige DDR-Wirtschaftsminister, sei die größte Vernichtung
von Produktivkapital in Friedenszeiten. Das heißt, die Treuhand hat im Grunde genommen einen Krieg gegen
die Planwirtschaft geführt. Und das Gleiche geschah in unserem Land in den 1990er Jahren, als die
Jelzinoiden unsere Wirtschaft zerstörten.
Der Historiker Marcus Böick, der eine Arbeit über die Treuhand verfasst hat, ist der Meinung, dass die Idee für
diese Einrichtung auf den orthodoxen liberalen Politiker der 1950er Jahre, Ludwig Erhard, mit seiner
“Schocktherapie” zurückgeht. Und ironischerweise wurde die Treuhand in Dissidentenkreisen in der DDR
erfunden. Aber sie wurde zu einem anderen Zweck erfunden – sie wurde als Gesellschaft erfunden, die
die Rechte der Bürger auf das Volkseigentum sichern sollte. Nach den Vorstellungen der Dissidenten
sollte die Treuhand das Eigentum unter den Bürgern aufteilen (d.h. ein bisschen für jeden) und die
Leitung der Fabriken den Arbeitern überlassen. Mit dem Sieg der Konservativen bei den Wahlen im März
1990 wurden die Karten jedoch neu gemischt, und die Klassenlogik des Kapitalismus trat in Kraft.
Zwei Wochen vor der Währungsunion verabschiedete die ostdeutsche Volkskammer in aller Eile ein Gesetz
über die Privatisierung und die Organisation des Volkseigentums. Man glaubte, auf diese Weise einen
Kompromiss zwischen Sozialismus und Kapitalismus erreichen zu können. In Wirklichkeit sorgte die
“Schocktherapie” jedoch lediglich für einen Pogromsieg des Kapitalismus und organisierte am Ende genau
diese Treuhand.
Die Liste der Führungskräfte dieser Struktur, in der ostdeutsche Mitarbeiter direkte Anweisungen aus dem
Westen Deutschlands erhielten, ist sehr aufschlussreich. So war der erste Präsident Reiner Maria Gohlke,
ehemaliger Vorstandsvorsitzender von «IBM». Ihm folgte im August 1990 Detlev Karsten Rohwedder,
Präsident des Stahl- und Montageunternehmens «Hoesch AG». Der Aufsichtsratsvorsitzende war Jens
Odewald, der Kohl nahe stand, er war Chef der Großhandelskette «Kaufhof». Das heißt, es war die absolute
Spitze des deutschen Kapitals, des deutschen Patronats.
Fefelow: Das sind richtige Mastodonten.
Fursow: Echte Mastodonte.
Eine andere Geschichte ist das Pogrom im Bankensektor der DDR. Es wurde auf elegante Art und Weise
durchgeführt. Der Punkt ist, dass in der DDR die Banken dem Staat gehörten, und wenn der Staat einem
Unternehmen Geld lieh, formalisierte er es als Kredit, der auf dem Konto des Unternehmens verbucht wurde.
Nach der Wiedervereinigung erklärten die höchsten Funktionäre der BRD diese Konten zu Schulden, die die
Unternehmen an die Banken zurückzahlen mussten. Die Banken waren bereits privatisiert und billig an
westliche Finanzstrukturen verkauft worden. So kaufte die Berliner Bank die Staatsbank der DDR, die 11,5
Milliarden Mark an Vermögenswerten hatte, für 49 Millionen Mark. (Und auch das ist unserer Situation
sehr ähnlich.) Das ist ein 200-facher Gewinn.
Insgesamt, so die französischen Forscher Willmar und Guettard, kauften die vier größten Banken
Westdeutschlands für 824 Millionen Mark alle Banken der DDR auf und erhielten dafür 40 Milliarden
Mark Schulden. Und diese Verbindlichkeiten haben sie dann den Unternehmen vorgelegt.
Offensichtlich konnten es die Unternehmen nicht… Nun, es ist wie unsere Kautionsversteigerungen
von 1996.
Eine Reihe von Entscheidungen der Treuhand zeigt, dass diese Struktur so agierte, dass sie jede Möglichkeit
des Wettbewerbs in Bezug auf westdeutsche Unternehmen zerstörte. So schloss die Treuhandleitung am 2.
Oktober 1990, am Vorabend der Wiedervereinigung, das Dresdner Unternehmen für Optik und Feinmechanik
«Pentacon», das erstklassige Produkte herstellte, darunter die berühmte Kamera «Praktica». Die Fabrik
beschäftigte 5.700 Mitarbeiter, die Kameras waren im Westen weit verbreitet, von hoher Qualität und billig. Die
Treuhand zerstörte die DDR-Fluggesellschaft «Interflug», um einen Konkurrenten der westdeutschen
Lufthansa zu beseitigen. 1990 fusionierte die Treuhand den thüringischen Kaliproduzenten «Bischofferode»
mit dem westlichen Unternehmen «K+S», was einen potenziellen Konkurrenten sofort ausschaltete und die
Menschen auf die Straße warf. Generell, so sagen die Ostdeutschen selbst, gab es 1993/94 in Ostdeutschland
nichts mehr von Wert.
Die Arbeiter der DDR wollten die aggressive Annexion nicht wortlos hinnehmen. Es kommt zu
Demonstrationen, an denen sich 20.000-60.000 Menschen beteiligen. Am 30. März setzt eine Gruppe von
Personen die Berliner Agentur der Treuhand in Brand, und am nächsten Tag wird der Direktor dieser
Einrichtung, Rohwedder, getötet. Aber ein anderer Privatisierungsfanatiker übernahm die Leitung.
Die französische Zeitschrift «Le Monde diplomatique» beschreibt die Situation so: «Die bandenmäßig
organisierten Gauner, Scharlatane, Schwindler und Betrüger aller Art haben schnell erkannt, dass die
Treuhand als Übermittler öffentlicher Gelder des Staates in die Hände derer fungierte, die sie kaufen wollten».
Es ist nicht verwunderlich, dass alle Aktivitäten der Treuhand von Skandalen und der Entstehung des Begriffs
“Wirtschaftskriminalität” begleitet wurden. Das heißt, die Fusion selbst nahm den Charakter einer kriminellen
Revolution an.
Fefelow: Sie hatten also das Gleiche wie wir.
Fursow: Ja, das ist ungefähr dasselbe. Aber die Sache ist die, dass man in den 1990er Jahren im Westen
schrieb: «Schaut, was in Russland passiert. Banditen sind an der Macht. Die Oligarchen sind ehemalige
Räuber.» In der DDR haben sie auf staatlicher Ebene das Gleiche gemacht, nur waren die Herren nach
außen hin anständig, aber im Kern waren sie die gleichen Schurken.
Fefelov: Mit respektablen Gesichtern.
Fursow: Genau.
1998 schätzte eine parlamentarische Kommission die Veruntreuung von Geldern bei der Privatisierung in der
DDR auf 3 bis 6 Milliarden D-Mark. Das ist das, was an den Gehältern der Liquidatoren “hängen blieb”. Wer
für die Treuhand arbeitete, erhielt für die Sicherstellung der Privatisierung eine Prämie von 44.000 DM, bei
Überschreitung der Aufgabe 88.000 DM. In vier Jahren Tätigkeit verschlangen die externen Mitarbeiter der
Treuhand 1,3 Mrd. DM, davon 460 Mio. DM für räuberische Privatisierungsberatung. Der Treuhanddirektor
selbst gab im Juli 1990, gleich zu Beginn der Arbeit, zu: «Was wir heute versäumen, was wir heute tun, wird
uns die nächsten 10-20-30 Jahre verfolgen.» Und in der Tat: In einigen Gebieten Sachsens, die Anfang der
1990er Jahre räuberisch privatisiert wurden, hat die Bevölkerung 2019 die «Alternative für Deutschland»
gewählt. Und wir werden sehen, ob da noch mehr kommen wird.
In den Jahren 1993-1994 und 1998 untersuchten zwei parlamentarische Kommissionen die Treuhand, wobei
sich herausstellte, dass sie nur Teil eines riesigen Eisbergs der illegalen Annexion eines ganzen Landes war.
Und diese Kommissionen forderten eine weitere öffentliche Untersuchung. Doch die Behörden der BRD ließen
alles im Sande verlaufen, und die Medien schoben die Hauptschuld auf einzelne Halunken und unehrliche
Geschäftsleute aus der DDR selbst, d.h. «die Ostdeutschen selbst sind schuld, diese Gauner!»
Tatsächlich wurde die Treuhand von Westdeutschen zum Nutzen der Regierung, der Unternehmen und des
Patronats der BRD geführt. Die Generation, die die DDR und ihre Wirtschaft aus der Asche des Krieges
wiederaufgebaut hat, wurde beraubt. Viele Rentner in der ehemaligen DDR leben heute von einer Rente
von 500 Euro im Monat, während die Standardrente in der BRD 1.441 Euro im Monat beträgt.
Der Historiker Böick verglich die Treuhand mit «einem gedächtnislosen Zombie, dessen Berührung alles
Lebendige abtötet; die Zerstörung der Industrie, die Entvölkerung ganzer Regionen, die Zunahme der
Ungleichheit, die Massenarbeitslosigkeit – das sind die Ergebnisse des westdeutschen Kapitalismus mit dem
Gesicht der Treuhand».
Analytiker fassen bereits die Ergebnisse der Annexion der DDR zusammen: «Die Verantwortlichen der BRD
können sich beglückwünschen. In den 1990er Jahren hat die BRD dank dieses Anschlusses ihre führende
Position in Europa wiedererlangt. Die beschleunigten Prozesse der politischen und monetären Integration in
der Europäischen Union unter starkem deutschem Druck sind auch ein verspätetes Ergebnis der Annexion der
DDR».
Fefelow: Deshalb wollten sie sich nicht vereinigen.
Fursow: Vollkommen richtig.
Und der Vertrag von Maastricht hat Europa Millionen von Arbeitslosen gekostet, aber ohne dieses Extra in
Form der DDR wäre es für die Bundesrepublik Deutschland schwieriger gewesen, dieser Motor zu werden. Sie
investieren etwas in die DDR, aber sie investieren einen Rubel von dem, was sie schon tausendfach
annektiert haben.
Das zweite Ergebnis ist durch den Verlust von Illusionen geprägt. Im Tausch gegen “politische Freiheiten”
wurden die Menschen in der DDR mit einem Stein um den Hals in die Wellen des Kapitalismus
geworfen. Und wie Edelbert Richter, ein langjähriger Kritiker der DDR-Behörden (er war noch Dissident in der
DDR) 1998 feststellte, «wurden die Ostdeutschen in die Demokratie und die soziale Marktwirtschaft integriert
und gleichzeitig von dem, was die Grundlage dieser Demokratie und Wirtschaft ist, nämlich dem Recht auf
Arbeit, auf Arbeitskraft und auf Eigentum, weitgehend ausgeschlossen».
Die BRD annektierte nicht nur die wirtschaftlichen Einrichtungen der DDR, sondern auch die soziale
Infrastruktur: Verlage, Kinos, Fernsehkanäle, Radiosender, Künstler, Straßennamen – all das verschwand in
nur wenigen Jahren. Der französische Forscher Nicolas Offenstadt hat ein Buch mit dem Titel «Traces of a
Gone Country» (Spuren eines verschwundenen Landes) geschrieben (es ist gerade erschienen). Er hat im
östlichen Teil Deutschlands gearbeitet und gesehen, was von der DDR tatsächlich übrig geblieben ist:
Westliche Tycoons privatisierten die Zeitschriften der ehemaligen DDR, das westdeutsche Regime
zerstörte ein effektives System der Berufsausbildung, Kindergärten und Krippen.
Und die ostdeutschen Frauen wurden sehr hart getroffen. Tatsache ist, dass die Frauen in der DDR Ende der
1980er Jahre gesellschaftlich sehr aktiv waren und sich an Protestbewegungen beteiligten. Diese Aktivität war
auf einem sehr hohen Niveau. Aber als die Wiedervereinigung stattfand, passte diese Aktivität der Frauen –
sowohl in der Arbeit als auch außerhalb der Arbeit – den BRD-Behörden überhaupt nicht. So wurden im
vereinigten Deutschland ostdeutsche Frauen, die an die staatliche Fürsorge (insbesondere bei der
Kinderbetreuung) gewöhnt waren, davon abgehalten, zu arbeiten, um nicht für die Zeit nach der Geburt eines
Kindes zahlen zu müssen. Daher begannen die Frauen in den neuen Bundesländern, sich freiwillig
sterilisieren zu lassen, um einem potenziellen Arbeitgeber eine Bescheinigung vorlegen zu können: «Ich bin
sterilisiert, ich werde keine Kinder bekommen, also werden Sie keine Probleme mit mir haben».
Fefelow: Wie grausam!
Fursow: In diesem Zusammenhang schreiben Forscher… 1999 wurde in Paris das Werk «Das verborgene
Gesicht der deutschen Einheit» veröffentlicht, und sie schreiben: «Wenn 1989 das Städtische Klinikum von
Magdeburg 8 Sterilisationen pro Jahr durchführte, waren es 1991 bereits 1200». Das heißt, die Zerstörung der
sozialen und medizinischen Infrastruktur der DDR durch die Herren in Westdeutschland wirkte sich schnell auf
die Geburtenrate aus: von 14 (pro 1000 Einwohner) im Jahr 1987 fiel sie auf 5 (pro 1000 Einwohner) im Jahr
1993, d.h. um das Dreifache.
Fefelow: Nun, es ist anscheinend auch ein Akt der Verzweiflung, wenn eine Frau sich selbst der Möglichkeit
des Kinderkriegens beraubt, um einen Job zu bekommen….
Fursow: Entweder sie bekommt kein Kind oder sie wird sterilisiert
Fefelow: Nun, das ist unglaublich! Dies ist im Grunde ein Akt des sozialen Völkermords…
Fursow: Natürlich!
Laut Paul Windolf (Informationen für 2001) erreichte die Arbeitslosigkeit unter den Menschen im
erwerbsfähigen Alter in den ersten fünf Jahren nach der Zerstörung der DDR fast 80%.
Die «Zeit Online» vom 2. Mai 2019 hatte folgende Information: Zwischen 1991 und 2017 gab es 3,7 Millionen
Ost-West-Migranten auf der Suche nach Arbeit (d.h. fast ein Viertel der DDR-Bevölkerung); 2,4 Millionen
zogen von West nach Ost; teilweise waren es desillusionierte “Ossis”, die zurückkehrten, und teilweise waren
es “Wessis”, die es nicht verstanden und gingen, dann aber auch sehr schnell zurückkehrten. All diese
Umzüge führten zu starken soziodemografischen Ungleichheiten zwischen den beiden Landesteilen. Junge
Menschen mit einem Abschluss verließen ihre Heimat überdurchschnittlich oft, und zwei Drittel derjenigen, die
nicht zurückkehrten, waren Frauen.
Fefelow: Es zeigt sich, dass sich die Wirtschaft der ehemaligen DDR nie erholt hat.
Fursow: Sie hat sich nicht erholt. Und, wie Rainer Kienholz, Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und
Entwicklung, feststellt: «Das war der extremste Fall von Frauenflucht, der in Europa beobachtet wurde.» Das
heißt, die deutschen Frauen sind abgewandert.
Zu dieser Zeit besetzten ganze Bataillone westdeutscher Kader die Spitzenposten in der Verwaltung. Die aus
diesen Positionen verdrängten Ostdeutschen erhielten, wie der «Spiegel» am 4. September 1995 schrieb,
lächerliche Abfindungen, die ironisch als “Zahnbürsten als Prämie” bezeichnet wurden – nach dem Motto,
gönnt euch was.
In einer Zeit, in der alle Welt von der Wissensökonomie und der Intellektualisierung der Arbeit sprach, wurde
die soziale Schicht der Intellektuellen in den fünf neuen Bundesländern vollständig eliminiert – das waren die
Leute, die in den 1980er Jahren die DDR-Behörden kritisierten und dachten, das “Ausland würde ihnen
helfen”.
Fefelov: Und natürlich strebten sie danach vereint.
Fursow: Ja. Wofür sie gekämpft haben, das haben sie bekommen.
Von 1989 bis 1992 sank die Zahl der vollbeschäftigten Forscher in den akademischen Einrichtungen und
Hochschulen, einschließlich des industriellen Sektors, d.h. des angewandten Sektors der Wissenschaft, von
140.000 auf 38.000, d.h. um mehr als das Dreifache. Ganze Strukturen wurden aufgelöst. Von den
Wissenschaftlern der ehemaligen DDR verloren innerhalb von drei Jahren nach der Wiedervereinigung
72% ihren Arbeitsplatz: Sie mussten entweder auswandern oder eine Umschulung mit drastischen
Einbußen bei Status und Gehalt absolvieren. Und das, obwohl sie in den meisten Fällen ihren Kollegen aus
der BRD fachlich in nichts nachstanden. Dieser Pogrom an fast 75% des wissenschaftlichen Personals wurde
offiziell mit der Notwendigkeit begründet, die marxistische Ideologie als Voraussetzung für weitere
Veränderungen und die berufliche Entwicklung des Personals auszurotten. Diejenigen, die ihren
Arbeitsplatz behielten, mussten jedoch einen politischen Loyalitätstest bestehen.
Was ist das Ergebnis? Die einst industrialisierte, exportorientierte Wirtschaft der DDR ist heute von der
Sozialhilfe der Bundeszentrale abhängig. Für die Klientel der BRD bedeutete der Anschluss eher die
Schaffung eines positiven als eines negativen Kreislaufs. Durch die Überweisung von Staatsgeldern in die
neuen Bundesländer wurden in Westdeutschland produzierte Waren und Dienstleistungen finanziert und in
Gewinne umgewandelt.
Der Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau räumte 1996 ein: «In Wahrheit sind die fünf Jahre “Aufbau
Ost” an der Stelle der ehemaligen DDR ein großes, bisher nicht gekanntes Bereicherungsprogramm für die
Westdeutschen. Deshalb feiert die herrschende Klasse der Bundesrepublik Deutschland und ganz
Westeuropas das Datum des 9. Novembers mit großem Pomp. Dieses Fest ist der Beginn des Raubes und
der Zerstörung eines ganzen Landes». Genau wie der 12. Juni für die Russische Föderation ein Feiertag des
Jelzin-Klans ist.
Mit anderen Worten: Im Mittelpunkt dieses Vorstoßes zur Stärkung der EU nach 1989 steht das Leid der
großen Masse der ostdeutschen Bevölkerung, die enteignet und aus dem gesellschaftlichen Leben geworfen
wurde, und auf deren Knochen dieses Gebäude errichtet wurde.
Und während in den 1990er Jahren viele westliche Analytiker und Journalisten euphorisch waren, schreiben
jetzt immer mehr Leute – nicht in linken, sondern in zentristischen und liberalen Publikationen –, dass es sich
um eine echte Annexion handelte, bei der der reiche östliche Teil mit Duldung der sowjetischen Führung, die
sich nicht um die Ostdeutschen kümmerte (und auch nicht um ihr eigenes Land), ausgeraubt und angeeignet
wurde. Dieser Prozess beginnt nun, die Analyse zu erhalten, die er in den 1990er Jahren hätte erhalten sollen,
aber wie wir wissen, “fliegt die Eule der Minerva in der Abenddämmerung aus”.
Fefelow: Ja, das ist eine Schwäche des modernen Deutschlands. Und übrigens kann sie auch von einem
geopolitischen Gegner genutzt werden… aus dem Osten oder aus dem Westen, das ist schon….
Fursow: Auf jeden Fall. Denn die Erinnerung an den Sozialismus ist nicht verschwunden, auch nicht bei der
jüngeren Generation. Der Widerstand gegen die Behörden in Ostdeutschland – obwohl sie Preußen sind, und
eigentlich der Führung folgen sollten – ist größer. Man muss sich nur die Landkarte des heutigen
Deutschlands anschauen, wo es mehr Moscheen gibt und wo der Widerstand gegen den Bau von Moscheen
größer ist. Der westliche Teil Deutschlands ist mit diesen grünen Punkten übersät, im östlichen Teil gibt es viel
weniger Moscheen.
Fefelow: Nun, Ostdeutsche wurden der Entnazifizierung nicht unterzogen.
Fursow: Entnazifizierung, ja. Außerdem waren sie 40 Jahre lang mit einem sozialistischen Patriotismus
erzogen worden, dessen Grundlage, ob gut oder schlecht, der deutsche (preußische!) Nationalismus und die
Achtung vor dem Staat war. Das, was danach geschah, hat das alles nicht völlig aus der Bahn geworfen. Und
es scheint, dass in dem Maße, wie sich die Krise der Europäischen Union und die Krise des
kapitalistischen Systems vertiefen, Gebiete wie die ehemalige DDR (Ostdeutschland) ein viel größeres
Potenzial für Widerstand und Überleben in der Krise haben als die Westdeutschen. Ja, die
Westdeutschen sind sicherlich reicher, aber ihre soziale Schmerzgrenze ist viel niedriger. Das Spiel ist also
noch nicht gelaufen, und es besteht ein gewisser vorsichtiger historischer Optimismus.
Fefelow: Wenn es einen deutschen Geist gibt, dann ist er immer noch dort, im Osten Deutschlands.
Fursow: Eigentlich war er immer da, in Form des preußischen Geistes, der in anderen Teilen Deutschlands
nicht geliebt wurde, aber dennoch war es Preußen, das der Motor der deutschen Einigung war, und es war
dieses Gebiet, das den Kern des “Deutschtums” bildete. Von Churchill stammt der berühmte Satz, dass
England nicht gegen Hitler oder gar den Nationalsozialismus Krieg führe, sondern gegen den
deutschen Geist, damit er nicht wieder auferstehe. Es gab einmal eine Zeit, da schaute ich auf die Band
«Rammstein» und dachte, sie sei der Beginn der Wiederbelebung des deutschen Geistes. Ich habe mich
geirrt, «Rammstein» wurde nicht zu einer Wiederbelebung des deutschen Geistes. Aber, wie wir wissen, stirbt
die Hoffnung zuletzt…..
Fefelow: Aber das sind doch Vertreter der DDR.
Fursow: Ja, natürlich.
Aber die Tatsache, dass die Wähler im Osten Deutschlands eher für die «Alternative für Deutschland»
stimmen als im Westen, weckt bei unseren deutschen Genossinnen und Genossen einen gewissen
historischen Optimismus.
Eine Empfehlung zum Thema: Katapult-Magazin
übersetzt und erschienen auf: www.fktdeutsch.wordpress.com
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